Die Humanisierung des Lehrbereiches Pathophysiologie in der modernen medizinischen Ausbildung
Von Dr. med. Jurij Streltschenko, Nationale Medizinische Universität Donezk
Die Pathophysiologie zählt zu den medizinischen und biologischen Grunddisziplinen, welche die theoretische Ausbildung eines Arztes vervollständigen und seine wissenschaftliche Weltanschauung sowie ärztliches Denken gestalten. Das Ziel dieser Disziplin besteht darin, die Besonderheiten des Verlaufs von Lebensprozessen in einem kranken Organismus zu erforschen, die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten des Ursprungs, der Entwicklung, des Verlaufs und Ausgangs festzustellen und die ärztliche Sicht auf das Wesentliche eines Krankheitsprozesses zu formen. Wie jede andere biologische Disziplin hat sich auch die Pathophysiologie angesichts eines permanenten Aufkommens neuer wissenschaftlicher und technischer Entwicklungen stets zu vervollkommnen.
Eine der Grundrichtungen für die Vervollkommnung der entsprechenden Lehre ist die Humanisierung der Lehre für künftige Ärzte. Dieses Problem ist ein wichtiger Teil der Hochschullehrertätigkeit bezüglich der Erarbeitung methodologischer Probleme in der Medizin und medizinischer Entwicklungsprognosen. Heutzutage ist es besonders wichtig, weil die Medizinentwicklung neben einer starken materiellen Basis eine moderne technische Aufstellung sowie eine konzeptionelle Begründung der zu lösenden Aufgaben fordert.
Als Wissenschaft ist die Pathophysiologie eine experimentelle medizinische Disziplin, deren Grundmethode im pathophysiologischen Experiment und Modellieren besteht. Ein Lebendobjektversuch erfolgt mit unterschiedlichen Tierarten, einzelnen Organen, Geweben, Zellen und subzellularen Strukturen. Seit jeher versuchen die Pathophysiologen pathologische Standardprozesse an Tieren wiederzugeben (Entzündung, Fieber, Allergie usw.), einzelne Symptome und Krankheitssyndrome (arterielle Hyper- und Hypotonie, Krämpfe, Nieren- und Leberversagen), aber auch adäquate Modelle einzelner menschlicher Krankheiten (Pneumonie, Arteriosklerose, Infarkt) und Infektionskrankheiten etc.
Das oben Erwähnte gehört zum wissenschaftlichen Aspekt der Pathophysiologie. Aber in der heutigen Entwicklung dürfen diese Dogmen nicht auf die Lehre übertragen werden. Zum einen ist das pathophysiologische Lehrexperiment kein Experiment im eigentlichen Sinne mehr. Es dient lediglich der Demonstration einer in der Medizin lange bekannten Tatsache, eines pathologischen Prozesses etc. Und eine Demonstration kann man auch ohne den Tod von Tieren durchführen, da alle Demonstrationsexperimente längst in Lehrfilmen festgehalten worden sind. Außerdem können heute Übungsgeräte, Modelle und Computerprogramme genutzt werden, die ein reales Experiment simulieren.
Zum anderen ist der menschliche Organismus viel komplizierter als der von hochentwickelten Lebewesen (wie etwa der Menschenaffen). Er ist dem Einfluss sozialer Faktoren unterworfen. Die Verwirklichung eines Experiments ist mit vielen Schwierigkeiten aufgrund der Komplexität pathologischer Prozesse verbunden: der Notwendigkeit der gleichzeitigen Untersuchung vieler Aspekte des pathologischen Prozesses und der Unmöglichkeit, alles auf einmal zu tun, der fehlenden Wiederholbarkeit einer Reihe beim Menschen zu beobachtender pathologischer Prozesse sowie dem Vorhandensein möglicher Fehlerquellen.
In diesem Zusammenhang ist es sowohl aus wissenschaftlicher Sicht als auch aus Lehrsicht einfach unrealistisch, menschliche Krankheiten vollumfänglich an Tieren zu modellieren.
In der Tat war das Experiment vor 50 bis 100 Jahren, als es weder Beamer noch Computer noch Overheadprojektoren oder Videorekorder gab, die einzige Möglichkeit für eine anschauliche Ausbildung von Studenten. Aber nicht heute, wo jeder Student ein Smartphone mit Internetzugang in der Hosentasche hat und sich Lehrfilme im Hörsaal oder auch zu Hause ansehen kann.
Die Mehrzahl der anschaulichen Experimente sind gar keine solchen, beispielsweise die Nachahmung von Schüttelfrost bei Ratten und Kaninchen. Was ist daran anschaulich? Die Erhöhung der Körpertemperatur und des Stoffwechsels. Wer von uns hat dies nicht schon am eigenen Leib erfahren? Warum muss man den Tieren deswegen Fieber auslösende Substanzen verabreichen?
Ein anderes Beispiel: das Simulieren eines hydrodynamischen Lungenödems bei Ratten durch Verabreichung von Adrenalin. Das Einzige, was Studenten sehen, ist das sich wegen eines Myokard-Infarkts vor Schmerzen und Qualen windende Tier. Anschließend wird das Tier zur Untersuchung der Lungen seziert. Und dafür braucht man den Tod? Ich kann noch viele Experimente anführen, die in unserer heutigen Zeit ihren Anschaulichkeitscharakter verloren haben.
Der Grund für all dies sind moralisch veraltete Lehrbücher und Lehrprogramme, anhand derer Pathophysiologie gelehrt wird. Sie werden einfach Jahr für Jahr aus hoffnungslos überholten, mindestens 50 bis 70 Jahre alten Handbüchern übernommen. In diesen Lehrbüchern wird Jahr für Jahr festgeschrieben, dass die Hauptmethode der Pathophysiologie das Experiment ist. Doch wie wir heute wissen, ist die Demonstration des Tods eines Tieres keinesfalls eine pathophysiologische Methode.
Wenn man noch etwas tiefer gräbt, sieht man, dass die Wurzeln all unserer Handbücher und methodologischen Ratgeber zur Durchführung von Lehrplänen im „Plan des Lehrens der Disziplin" liegen. Wenn dort steht, dass man im Rahmen einer Lehrsitzung 15 Frösche und zehn Ratten täglich töten müsse, dann wird diese Information gedankenlos in die methodologischen Ratgeber zur Durchführung von Lehrveranstaltungen übernommen. Und wenn, Gott bewahre, der Dozent von diesem Programm abweicht, dann wird er zum Außenseiter, der die technologische Seite der Lehrveranstaltung nicht erfüllt und falsch lehrt.
Um einen Weg aus dieser Sackgasse zu finden, müssen Lehrpläne und -bücher überprüft und umgeschrieben werden. Dies erfordert einen großen Arbeitsaufwand, den niemand auf sich nehmen möchte. Junge Dozenten haben keine Zeit; außerdem wird niemand jungen Lehrkräften das Umschreiben von Lehrbüchern und -plänen gestatten. Erfahrene Dozenten fällt es zuweilen schwer, auf der Höhe der Zeit zu bleiben, oder es mangelt am Willen. So wird die Art des Lehrens seit Urzeiten einfach fortgesetzt.
Der pathophysiologische Lehrbereich der Nationalen Medizinischen Universität Donetsk hatte jedoch das Glück, im Jahr 2012 Menschen kennenzulernen, die der Art und Weise der Demonstrationsexperimente an Tieren nicht gleichgültig gegenüberstanden. Dabei handelt es sich um Corina Gericke (Stellvertretende Vorsitzende der Organisation „Ärzte gegen Tierversuche"), Nick Jukes (Leiter des internationalen Netzwerks für humane Ausbildung InterNICHE) und Dmitrij Leporski von der ukrainischen InterNICHE-Vertretung.
Das Kollegium des pathophysiologischen Lehrbereichs, angeführt vom damaligen Bereichsleiter Professor Viktor Nikolaevich Jelskij (Mitglied der Nationalen Akademie für Medizinische Wissenschaften der Ukraine und Doktor der medizinischen Wissenschaften), nahm die Idee des Verzichts auf Demonstrationsexperimente im Lehrplan und deren Ersatz durch alternative Lehrmethoden mit Enthusiasmus auf.
Im Laufe zweier Monate wurde uns eine umfangreiche Sammlung an Videofilmen zur Verfügung gestellt, die zum Teil in der UdSSR aufgenommen, zum Teil aber schon von Kollegen aus anderen Hochschulen in der unabhängigen Ukraine erstellt wurden. Ebenso erhielten wir interaktive Lehrprogramme zur, die verschiedene Laborexperimente an Tieren simulieren(z. B. Blutuntersuchungen, EKG-Aufzeichnung, Elektro-Enzephalografie, Versuche am offenen Froschherzen, Arteriendruck).
Im Oktober des Jahres 2013 wurden zum Zweck einer anschaulichen Demonstration der erhaltenen Materialien und Programme liebenswürdigerweise zwei Beamer und zwei Notebooks samt Taschen kostenlos zur Verfügung gestellt. Auch wurde eine Vereinbarung zwischen der Universität (repräsentiert durch den neuen Leiter Professor und Doktor der medizinischen Wissenschaften Sergej Vladimirovich Zjablicev), Ärzte gegen Tierversuche und InterNICHE über eine enge Zusammenarbeit und den Verzicht auf Tierversuche zu Lehrzwecken unterzeichnet.
Auf diese Weise wurde die Zahl der zu Lehrzwecken genutzten Labortiere am pathophysiologischen Bereich bereits um 85 Prozent reduziert. Die übrigen 15 Prozent werden noch im Laufe des Jahres durch von uns gemeinsam mit Kollegen aus anderen Hochschulen sowie ausländischen Kollegen entwickelten Alternativen ersetzt. Dabei handelt es sich um verschiedenartige Übungsgeräte, Modelle und interaktive Computerprogramme.
Mithilfe von Notebooks und Beamern kann man einer ganzen Gruppe, manchmal auch zwei Gruppen (bei Vorlesungen sogar einem ganzen Jahrgang), die Durchführung eines pathophysiologischen Experiments oder Laborexperiments ohne den Einsatz von Tieren demonstrieren. Dies ist ein Schritt in die Zukunft. Immer mehr Wert wird auf die gegenseitige Ausbildung der Studenten gelegt, auf einen aktiven Lehrprozess, was man heutzutage interaktives Lehren nennt.
In diesem interaktiven Lehrprozess haben blutige Demonstrationsversuche an Tieren meines Erachtens gar keinen Platz. Sie nehmen wertvolle Zeit in Anspruch (man muss das Tier für die Übung vorbereiten, es irgendwo halten, füttern, anschließend das biologische Material entsoregn - all das ist nur ein Bruchteil der mit dem Einsatz von Tieren verbundenen Schwierigkeiten) und die Anschaulichkeit dieser Experimente ist anzuzweifeln. Zudem herrscht ein Mangel an medizinischem Instrumentarium, Reagenzien und Präparaten.
Es gibt auch Erfahrungen bei der Integration von Veterinäreinrichtungen und medizinischen Universitäten. Medizinstudenten sehen nicht nur das leidende Tier, sondern können Tieren helfen und damit ihre medizinischen Fertigkeiten trainieren. Dies ist die Zukunft der medizinischen Ausbildung.
Mehr noch: Es zeichnet sich die Tendenz ab, wissenschaftliches Material bei Tieren zu sammeln, die eigenständig erkrankt sind oder sich verletzt haben. Man schließt also von vornherein die grausame Simulierung eines pathologischen Prozesses an intakten Tieren aus. Die pathologische Physiologie nähert sich mit jedem Jahr der Klinik an. Es gibt sogar einen Namen für dieses Fach: „Klinische Pathophysiologie". Dort lernen Studenten, anhand von echten Patienten gewonnenes Material zu analysieren. In unserer Zeit, mithilfe der Weiterentwicklung der Visualisierungsmethoden innerer Körperbereiche und der Labordiagnostik sollte die Nutzung von Tieren in der Lehre meiner Meinung nach der Vergangenheit angehören.
Auf diese Weise wird der Lehrprozess der pathologischen Physiologie in der Nationalen Medizinischen Universität Donetsk permanent mit dem Ziel vervollkommnet, den modernen Anforderungen sowohl der medizinischen Wissenschaft als auch der Humanität der höchsten medizinischen Bildung zu entsprechen.
14.12.2013
Dr. med. Jurij Streltschenko, Nationale Medizinische Universität Donezk